Gemüse statt Ratten
Latrinenkehrer und Rattenfänger erlernen einen menschenwürdigen Lebenserwerb durch Gemüseanbau und Bambusverarbeitung
Thema:
Lebenserwerb, Umwelt, Ernährungssicherheit
Ort:
Distrikt West-Champaran, Bundesstaat Bihar, Indien
Projektlaufzeit:
01.01.2021 bis 31.12.2022
Erreichte Zielgruppe:
240 Familien aus Musahar- und Dom-Gemeinschaften
Herausforderungen
West-Champaran ist einer der ärmsten Distrikte von Bihar, in dem fast 77 % der Menschen in Armut leben (2004/2005). In den Bezirken Nautan und Lauriya des Distrikts West-Champaran leben sehr viele Musahar (auch abwertend „Rattenfresser“ genannt) und Dom (als „Latrinenkehrer“ bezeichnet). Bei der sogenannten Latrinenreinigung werden die menschlichen Exkremente von Hand aus den Trockenlatrinen und Abwasserkanälen entfernt und entsorgt. Traditionell sind sie mit den ihnen zugeschriebenen, niederen Tätigkeiten beschäftigt und haben nicht viel Raum für Entwicklung.
Die Machtverhältnisse im indischen Kastensystem führen nicht nur insgesamt, sondern auch unter den Dalits zu einer Hierarchie im Produktions- und Dienstleistungssystem und beim Zugang zu Ressourcen und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Obwohl alle Dalits seit Generationen mit Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft und mit der sogenannten „Unberührbarkeit“ konfrontiert sind, haben „besser gestellte“ Dalits Musahar und Dom auf dieselbe Weise diskriminiert. Aus diesem Grund sind die Musahar und Dom benachteiligt gegenüber anderen Unterkasten, die von Regierungsprogrammen und anderen sozioökonomischen Vorteilen profitieren konnten. Dies hat dazu geführt, dass Analphabetismus, Unterernährung, hohe Krankheitsanfälligkeit, Armutswanderung, unsicheres Einkommen, Verschuldung, geringes Selbstwertgefühl, Arbeitslosigkeit, mangelndes Vertrauen und Unstimmigkeiten innerhalb dieser Gemeinschaften fortbestehen.
Ziel des Projekts
Die sozioökonomischen Bedingungen von 120 Familien aus Musahar- und Dom-Gemeinschaften im Distrikt West-Champaran in Bihar werden verbessert. Durch landwirtschaftliche Betätigung und kleine handwerkliche Arbeiten schaffen sie finanzielle Unabhängigkeit und Sicherheit. Dadurch können sie ein produktives Leben frei von Diskriminierung führen. Das Projekt schult die Gemeinschaften, damit sie eigenverantwortlich geführte Organisationen gründen und ihre berechtigten Ansprüche einfordern und umsetzen können.
Dadurch können zukünftige Schicksalsschläge wie die regelmäßigen Überschwemmungen, Dürren oder Krankheitsfälle abgemildert werde. Familien, die von Tageslöhnen oder zeitweise sogar von Schuldknechtschaft abhängig waren, können nun ihre finanzielle Sicherheit durch Gemüseanbau, verbesserte Ziegenhaltung und die Herstellung von Bambusprodukten verbessern.
Hauptaktivitäten
Die Projektaktivitäten werden die unternehmerischen Fähigkeiten dieser Gemeinschaften in den Bereichen Gemüseproduktion, Bambusverarbeitung und Ziegenhaltung verbessern und ihr Leistungsvermögen durch Schulungen, Treffen, Besuche vor Ort, den Austausch bewährter Praktiken und die Kommunikation untereinander ausbauen. Das Projekt ermöglicht durch die Schaffung nachhaltiger Lebenserwerbsmöglichkeiten eine positive Veränderung ihrer Lebensumstände. Sie werden ihre Kinder zur Schule schicken und ihren Lebensunterhalt würdevoll sicherstellen. Dadurch gewinnen sie an Respekt und können sich langfristig in die Mehrheitsgesellschaft integrieren.
Fallgeschichte
Motilal Manjhi’s inspirierende Geschichte eines Wandels
Motilal Manjhi ist 50 Jahre alt und wohnt im Dorf Seripar Tola Musahari, das im Bezirk Nautan des Distrikts West-Champaran im Bundesstaat Bihar liegt, im Nordosten Indiens. Motilal besitzt kein eigenes Land und wohnt auf einem öffentlichen Grundstück. Er ist verheiratet und hat sechs Söhne und fünf Töchter. Drei Söhne und drei Töchter sind bereits verheiratet und leben mit eigenen Familien. Somit trägt er die Verantwortung für die Versorgung seiner Frau sowie der drei Söhne und zwei Töchter, die noch zuhause wohnen. Die Familie gehört zu den Musahar *. Motilal und seine Frau arbeiten als Tagelöhner auf einem nahegelegenen Grundstück, das einem Großbauern gehört.
„Eines Tages kam ein Team der Phia Foundation in unser Dorf. Sie luden uns und andere Musahar-Familien zu einem Treffen ein. Sie sagten, es ginge darum, finanziell unabhängig zu werden und ein Leben in Würde und frei von Diskriminierung führen zu können.
Ich war neugierig, denn eigentlich träumten meine Frau und ich von einem besseren Leben als das, was wir als Tagelöhner führten: abhängig zu sein von einem Großbauern und nie zu wissen, wie die nächsten Tage werden, ob wir Arbeit haben werden und etwas Geld verdienen können, um für uns und die Kinder Essen und Kleidung kaufen zu können. Also ging ich zu dem Treffen.
Die Leute sagten: Wir bringen euch bei, wie man Gemüse anbaut, Bambus verarbeitet und Ziegen hält. Nicht nur die Männer, auch die Frauen sollten das lernen. Das ganze sei ein Projekt, um uns aus der Abhängigkeit von den Großbauern zu befreien und unseren Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften. Und sie erklärten uns, wie das ganze ablaufen soll. Dabei redeten sie sogar in unserem lokalen Dialekt zu uns, damit wir sie besser verstehen.
Sie beschrieben uns die Vorteile des Gemüseanbaus und zeigten mit Bildern, wie viel Geld wir verdienen können und was wir dafür tun müssen. Wir sollten Saatgut bekommen, das besonders für diesen Zweck geeignet ist. Fachleute sollten uns in regelmäßigen Schulungen die Techniken beibringen, die für einen wirtschaftlichen Anbau wichtig sind.
Ich sagte zu den Leuten: Wie sollen wir Gemüse anbauen? Wir haben ja noch nicht einmal ein Grundstück dafür. Die meisten anderen aus dem Dorf stimmten mir zu. Die Leute machten den Vorschlag, Land von Grundbesitzern zu pachten, von denen es in der Gegend einige gibt. Und denjenigen von uns, die keine Möglichkeit hatten, Land zu pachten, oder die aus anderen Gründen kein Gemüse anbauen konnten, zum Beispiel weil sie gesundheitlich oder körperlich nicht dazu in der Lage waren, versprachen sie, dass sie zumindest für einen kleinen Küchengarten verbessertes Saatgut bekommen sollten. Wir sollten alle darüber nachdenken, ob wir bei diesem Projekt mitmachen wollten. In vier Tagen sollte es dann ein weiteres Treffen geben.

Meine Frau und ich, wir wollten unbedingt mitmachen. Noch vor Ablauf der vier Tage hatte ich von meinem Vermieter ein kleines Stück Land gepachtet. 19 Familien waren beim nächsten Treffen dabei. Sie wollten es zumindest bis zur ersten Ernte ausprobieren und die neuen Anbautechniken erlernen.
Und so begannen wir, mit der ganzen Familie das Land für die erste Aussaat vorzubereiten. Als wir soweit waren, bekamen wir von dem Phia-Team Saatgut für Okra-Schoten, verschiedene Kürbissorten, Spinat und Rettich. In den Schulungen lernten wir alles, was wir über den Anbau wissen mussten. Wir haben gelernt, wie wir Dünger und Mittel gegen Schädlinge aus Pflanzen selbst herstellen können und wann und wie wir die Mittel ausbringen müssen, damit alles gut wachsen kann. Wir haben uns sehr bemüht, alles richtig zu machen.
Jetzt beginnt die Saat zu keimen und die ersten Blätter sind zu sehen. Wir sind sehr glücklich, dass wir uns so entschieden haben. Es ist das erste Mal, dass wir selbst Gemüse ausgesät haben. Die Kinder schauen jeden Morgen, ob die Pflanzen wieder ein Stück gewachsen sind. Und meine Frau und ich hoffen, dass wir in ein paar Wochen schon die ersten Früchte essen und vielleicht auch verkaufen können.“
* Musahar (wörtlich: Rattenesser) nennt man in Indien Menschen, die in eine Kaste geboren wurden, die mit zu den untersten der diskriminierten Kasten gehört. Sie werden gesellschaftlich ausgegrenzt und wohnen an den Stadträndern oder in eigenen Dörfern. In der Regel besitzen sie kein eigenes Grundstück. Die meisten von ihnen leben in Bihar, dem ärmsten Bundesstaat Indiens. Viele Musahar-Kinder gehen nicht zur Schule, weil sie von den anderen Kindern gemieden oder gemobbt werden oder weil ihre Eltern kein Geld dafür haben. Die Eltern verrichten – wenn sie überhaupt Arbeit bekommen – oft schlecht bezahlte Tätigkeiten, die niemand aus den höheren Kasten verrichten möchte. Oder sie verjagen die Ratten von den Feldern der Bauern – und essen sie manchmal auch heute noch, wenn sie sonst hungern müssten.
Story-Update
Mai 2021: Die ersten Früchte können bald geerntet werden:

Blüten und junge Frucht (links im Bild) des Schwammkürbis, der ähnlich unseren Zucchini als Gemüse Verwendung findet. Wird erst geerntet, wenn die Frucht bereits gelb wird und braune Punkte bekommt, kann sie zu Naturschwamm verarbeitet werden.

Die Früchte der Bittermelone (oder Bittergurke) werden ebenfalls als Gemüse zubereitet. Um die Bitterstoffe zu reduzieren, werden die Samen entfernt und die in dünne Scheiben geschnittene Frucht mit Salz eingerieben. Sie wird auch in der ayurvedischen Küche verwendet und gilt als wahres Super Food. Viele verschiedene Wirkungen als Heilmittel sind bekannt, unter anderem als Tee zur Vorbeugung gegen Typ-2-Diabetes.

Die geschälten Flügelgurken (auch Luffa-Kürbis genannt) werden gern als Currygemüse zubereitet. Die vitaminreichen harten Schalen kann man zu Chutney verarbeiten. Weil sie sehr ballaststoffreich sind, werden sie auch für Diätgerichte zum Abnehmen genutzt.




Als Ursprungsgebiet des Feigenblattkürbis werden die mexikanische Hochebene oder die Anden vermutet. Im 16. oder 17. Jahrhundert gelangte die Pflanze unter anderem auch nach Indien. Die unreifen Früchte werden als Gemüse zubereitet. Das Fruchtfleisch der reifen Früchte kann für die Herstellung von Süßigkeiten, Erfrischungsgetränken oder alkoholischen Getränken verwendet werden. Der Feigenblattkürbis findet auch bei der Veredelung zum Beispiel von Gurken als Unterlage Verwendung. Die Gurkenpflanze wird dadurch kältetoleranter und vor Fusariumwelke und Schwarzer Wurzelfäule geschützt.
Jahresbericht 2021
Unser lokaler Projektpartner, die Phia Foundation, hat den Jahresbericht für 2021 fertiggestellt. Wir stellen den Originalbericht (englisch) für Interessierte zur Verfügung.