Im Schatten der Pandemie

 

Die Corona-Pandemie hat Indien in einer zweiten Welle unsäglich hart getroffen. Während die Medien in erster Linie über die katastrophalen Zustände in den Metropolen berichteten, wurde die Lage auf dem Land kaum beleuchtet. Pratibha Singh und Susanne Traud-Dubois berichten, dass Frauen besonders schwer unter den Folgen der Virus-Pandemie zu leiden hatten.


 
 

Schattenpandemie: Gewalt gegen Frauen in Indien

Der Anstieg der Gewalt gegen Frauen während der Pandemie wurde von der Frauenrechtsorganisation UN Women als „Schattenpandemie“ bezeichnet. Es gibt zurzeit noch keine offiziellen Statistiken, aber die Berichte von zahlreichen Organisationen an der Basis sind eindeutig: Ungewissheit, verbunden mit wirtschaftlichen Turbulenzen, Verlust von Einkommen und Lebenserwerb, verstärkte den Stress und schürte die Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Durch die Mobilitätseinschränkungen wurden Frauen von ihren Unterstützungsnetzwerken abgeschnitten. Die von der indischen National Commission for Women (NCW) veröffentlichten Daten zeigen, dass die Beschwerden im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt nach der landesweiten Abriegelung in Indien sprunghaft angestiegen sind. Als Reaktion darauf initiierte die NCW eine WhatsApp-Helpline, um das Melden von Fällen von Gewalt zu erleichtern.

Kampagne des Maitri-Netzwerkes gegen Kinderheirat in Amravati, Maharashtra

Trotz der erschütternden Fälle von Gewalt berichteten Frauenorganisationen wie Shakti Shalini und Jagori, dass viele Frauen keine Hilfe bekommen. Das ist wohl der ständigen Überwachung geschuldet, der Frauen und Mädchen im Lockdown ausgesetzt sind. Manisha, eine Selbstverteidigungstrainerin von Prabodhini in Nagpur, betont die Schwierigkeit, Mädchen zu erreichen, die während des Lockdowns im Stillen litten. Sie sagt: „Wir haben versucht, die Mädchen per Telefon für Beratungsgespräche zu erreichen, doch nur sehr wenige konnten frei über die Schwierigkeiten sprechen, denen sie zu Hause ausgesetzt waren. Sie haben einfach keine Privatsphäre. Sie wurden von ihren Familienmitgliedern genau beobachtet“.

Dann gibt es viele Fälle von häuslicher oder sexueller Gewalt, die wegen der Tabuisierung dieses Themas nicht gemeldet werden. Neelu, eine Haushaltshilfe aus Lucknow, wurde während des Lockdowns regelmäßig von ihrem alkoholkranken Ehemann missbraucht und misshandelt. Ihr Mann hatte seinen Job als Straßenverkäufer verloren und gab das hart verdiente Geld seiner Frau für seinen Alkoholkonsum aus. Neelu hatte jedoch Angst, sich zu offenbaren und um Hilfe zu bitten, geschweige denn, ihren Mann bei der Polizei anzuzeigen. Sie fürchtete auch, die Ehre ihrer Familie zu gefährden oder diese auseinanderzureißen.

Die Pandemie hat die Menschenhändler nicht abgeschreckt, sondern sogar ermutigt. Frauen in ausbeuterischer häuslicher Arbeit und kommerzieller sexueller Ausbeutung wurden während der Ausgangssperre vergessen.

Während der Pandemie wurden die Mechanismen und Dienste, die eigentlich für Opfer von sexueller Gewalt vorgesehen sind, zur Eindämmung von Covid umgeleitet. Wie Mitarbeiter:innen von Jan Sahas, einer in Nord- und Zentralindien aktiven Nichtregierungsorganisation, berichteten, war der Polizeiapparat vielerorts mit der Überwachung der Ausgangssperre beauftragt und stand nicht zur Verfügung, um auf andere Verbrechen zu reagieren. Aktivist:innen berichten von Fällen, wo die Polizei die Opfer von sexueller Gewalt sogar entmutigte, diese Fälle zu melden. Zudem wurden viele Frauenhäuser und One-Stop-Krisenzentren in Quarantänezentren umgewandelt. Dr. Ranjana Kumari vom Centre for Social Research in Neu Delhi hat die allgegenwärtige Natur von Gewalt hervorgehoben, die weit über die Grenzen des eigenen Hauses hinausgeht. Ihre Organisation, so sagt sie, erhielt während des Lockdowns im Jahr 2020 und 2021 dreimal so viele Notrufe von Frauen, die unter Gewalt litten. Sie sagt: „In dieser verzweifelten Zeit, in der die Menschen um Krankenhausbetten, Sauerstoff und Medikamente kämpften, wurden sogar Fälle von Vergewaltigung und Belästigung von weiblichem medizinischem Personal gemeldet. Was für ein Horror, auch noch beim Kampf gegen Covid missbraucht zu werden! Das zeigt, wie tief Misogynie (Frauenfeindlichkeit) in der indischen Gesellschaft verwurzelt ist.“

Frauen treffen sich und unterstützen sich gegenseitig.

Maitri Kampagne Pandemie in der Pandemie

Covid-19 hat Indien bekanntlich schrecklich gebeutelt. Die Menschen hatten sich kaum von den immensen wirtschaftlichen Folgen der ersten Welle 2020 erholt, als die Infektionszahlen wieder dramatisch stiegen. Das Land ging erneut in den Lockdown, gerade als immer deutlicher wurde, wie unverhältnismäßig heftig die Auswirkungen der Pandemie und des Lockdowns auf Frauen sind. Im Schatten der Pandemie zeigt sich immer deutlicher eine „Pandemie in der Pandemie“, die besonders Frauen betrifft. Warum?

Katastrophen und Pandemien sind dafür bekannt, dass sie die im sozialen Umfeld verankerten Benachteiligungen für Frauen, Mädchen und marginalisierte Gemeinschaften verschärfen. Da ist Covid-19 keine Ausnahme. Hausarrest und Mobilitätseinschränkungen schlossen die Menschen in ihren vier Wänden ein, auch wenn diese nur aus Wellblech bestehen. Die von vielen als „sicherer Hafen“ empfundene häusliche Umgebung erwies sich jedoch für viele Frauen und Mädchen als katastrophal. Viele, die Gewalt und Missbrauch erlitten, waren ihren Peinigern jetzt noch mehr ausgesetzt.

 

Die zweite Corona-Welle im April und Mai 2021 stellte viele Familien in Indien vor kaum überwindbare Probleme. Besonders kritisch ist die Situation nach wie vor in den ländlichen Gebieten und sie setzt Frauen vielfältigen Risiken aus. Ihre Verwundbarkeit wird durch die schlechte medizinische Versorgung auf dem Land verstärkt. In Familien, in denen die männlichen Mitglieder dem Virus erlegen sind, müssen die Frauen plötzlich für sich und ihre Kinder sorgen. Diese Situation macht sie sehr anfällig für wirtschaftliche und sexuelle Ausbeutung. Wenn man die offiziellen Todeszahlen mit unabhängigen Recherchen und der statistischen Übersterblichkeit vergleicht, kann man eher von rund 1,5 Mio. Covid-Toten in Indien ausgehen. Es betrifft also sehr viele Familien.

Niharika Chopra von der Kailash Satyarthi Foundation in Neu-Delhi sagt, dass sie mehr als 10.000 Kinder und junge Mädchen vor dem Verkauf in Kinderarbeit und Prostitution retten konnten. Die Stiftung unterhält eine Notruf-Zentrale und wird aktiv, wenn sie Hilferufe über die Helpline bekommt. Sie erzählt: „Die Pandemie hat die Menschenhändler nicht abgeschreckt, sondern sogar ermutigt. Frauen in ausbeuterischer häuslicher Arbeit und kommerzieller sexueller Ausbeutung werden während der Ausgangssperre vergessen.“

Das Maitri-Netzwerk ist ein weiterer Akteur für Frauen, ein Zusammenschluss von bislang fünfzehn Organisationen, die sich für Frauenrechte in ganz Indien einsetzen. Sie trainieren Polizei und Justizbehörden, sensibler mit missbrauchten Frauen umzugehen. Sie unterstützen Überlebende von Gewalt auch praktisch und bei der juristischen Nachverfolgung. Als Netzwerk hat Maitri mehr Gewicht als einzelne Organisationen und setzt sich auch für die strukturelle Verbesserung auf der politischen Ebene ein, für bessere Gesetze und vor allem deren Einhaltung.

Notwendigkeit einer breiteren Strategie

Geschlechtsspezifischer Gewalt bei Katastrophen und in Pandemie-Situationen wurde bisher trotz der weltweiten Verbreitung wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die zweite Corona-Welle hat in Indien einen enormen Verlust von Menschenleben verursacht, und die Wucht des wirtschaftlichen Niedergangs wird noch lange nachwirken. Aber Ausgangssperren werden vermutlich auch in Zukunft eingesetzt werden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Für Frauen bedeutet das dann wieder, dass sie gezwungen sind, bei Familienmitgliedern zu bleiben, die sie womöglich missbrauchen. Daher ist es wichtig, einen mehrgleisigen Ansatz zu verfolgen, um das Problem von Gewalt gegen Frauen anzugehen. So sollten im Fall einer Pandemie spezifische Richtlinien und Verfahren für die Strafjustiz zum Schutz von Frauen festgelegt werden. Zuständige Behörden und Einrichtungen wie One-Stop-Krisenzentren sollten während eines Lockdowns weiterhin ungehindert arbeiten können und als systemrelevante Dienste angesehen werden.

Die erlittenen Einbußen im Familieneinkommen haben die Anfälligkeit von Frauen für häusliche Gewalt und das Risiko ihrer sexuellen Ausbeutung erhöht. Daher sind Geldtransfers und Unterstützung mit Lebensmitteln wichtig, um zu verhindern, dass Familien, insbesondere von Frauen geführte Haushalte, tiefer in die Armut abrutschen. Viele Polizeikräfte sind überlastet, aber ein reibungsloseres Beschwerdeverfahren, Beratungsgespräche und Rechtshilfen könnten viel dazu beitragen, Familien in Not zu unterstützen. Daher könnten Netzwerke auf Gemeindeebene wie ASHA- und Anganwadi-Gesundheitshelferinnen als erste Anlaufstellen für Frauen dienen, insofern sie dafür geschult werden. Organisationen wie Jan Sahas nutzen innovative Modelle, etwa „Paralegals“ oder auch Barfuß-Anwälte genannt, die Überlebenden von Gewalt rechtliche und praktische Unterstützung bieten. Viele dieser „Paralegals“ haben selbst Gewalt erlebt und können so auf emotionaler Ebene eine Verbindung zu den Frauen aufbauen.

Die Pandemie hat sich weltweit als „Booster“ für Online-Interaktionen aller Art erwiesen. Auch in Indien sind viele soziale Organisationen schnell dazu übergegangen, Online-Medien zu nutzen. Sie führen im Internet Schulungen für Aktivist:innen, Lehrkräfte und Behördenvertreter:innen durch, um das Bewusstsein für Kindes- und sexuellen Missbrauch zu schärfen. Es wurden Handy-Apps entwickelt, die es Frauen in Not leichter machen sollen, schnelle Hilfe zu erhalten. Aber natürlich haben längst nicht alle Frauen internetfähige Handys. Daher sind die von der Regierung des Bundesstaates Tamil Nadu genutzten „Phone Up“-Programme wichtig, um Gewaltopfer mittels Telefonanrufen zu betreuen. Eine politische Initiative zur Verbesserung der Sicherheit von Frauen ist nach wie vor dringend erforderlich, da die Pandemie die tief verwurzelte Benachteiligung von Frauen in Indien weiter verschlimmert.

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Meine Welt, Ausgabe 2/2021, erschienen.

 
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Geschichte einer Überlebenden von sexueller Gewalt

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